Eismenschen (Kurzgeschichte)

Eismenschen

Josefine stand am Fenster und schaute auf die Straße. Es war Anfang August, doch vom Sommer war nichts zu sehen. Im Gegenteil, es schneite! Die Straße, die Bäume, die Häuser und die Autos – alles war schon von einer dicken, weißen Schneeschicht bedeckt.
Doch der Schnee, so ungewöhnlich er um diese Jahreszeit auch war, war nicht das Schlimmste. Das Eis, die Eisschichten auf der Straße, den Fußwegen, ja so gar auf den Wiesen war dicker und ungewöhnlicher. Im Radio sprachen sie schon – halb im Scherz, halb im Ernst – von einer neuen Eiszeit.

Die eisige Kälte ließ alles erstarren. Die Welt schien bedrohlich still zu stehen. Die Kälte fraß sich durch alles, durch die Fenster, durch die Wände, durch die Heizungen. Durch die Kleidung der Menschen. Sie ließ die Gesichter erstarren, überzog auch sie mit einer Eisschicht und Eiszapfen bohrten sich mitten ins Herz der Menschen.

Autofahren konnte man schon seit einer Woche nicht. Die Busse und Bahnen fuhren auch nicht mehr. Die Menschen mussten durch Schnee und über Eis zur Arbeit gehen.
Josefine hatte zum Glück Sommer-, nein, Eisferien. Doch ihr war langweilig. Ins Schwimmbad konnte sie nicht. Der Fernsehempfang war gestört. Und zum Schlittschuhlaufen oder Schlittenfahren war es schon zu dunkel. Und was machte der Winter eigentlich im Sommer?

Josefine ging zu ihrer Mutter in die Küche.
„Mama, wieso schneit es im August?“
„Josi, nerv doch nicht immer mit deinen dummen Fragen, dafür hab ich jetzt keine Zeit!“
Josefine trödelte noch einen Moment in der Küche rum, aber als ihre Mutter sie genervt anschaute, ging sie doch lieber. Im Flur traf sie ihren Bruder.
„Sebastian, wieso schneit es im Sommer?“
„Wieso muss ich so eine doofe, kleine Schwester haben? Fragen über Fragen, auf die kein Mensch eine Antwort weiß“ sagte er eisig und knallte die Tür zu seinem Zimmer hinter sich zu.
Genervt verließ sie die Wohnung und ging in den Keller. Dort war ihr Vater, der versuchte einige alte Küchengeräte zu reparieren.
„Papa, wieso schneit es? Eigentlich sollte es doch warm sein, oder?“
„Hmm.. was.. ach ja.. der Schnee. Der Schnee ist schrecklich. Wo ist nur der Sommer hin? Josi, lass mich bitte in Ruhe, ich habe keine Zeit dir jetzt zuzuhören!“
Inzwischen war Josefine richtig sauer. Sie drehte sich um und lief zurück in die Wohnung. Sie zog ihre Jacke an, ihre dicken Winterstiefel und band sich ihren Schal um. Dann schnappte sie sich noch ihre Mütze und rannte aus der Wohnung. Als sie die Treppen runterlief öffnete Frau Kruse ihre Wohnungstür:
„ Sag mal, du Gör, musst du so die Treppe runtertrampeln?“
Josi ignorierte Frau Kruses Gezeter und fragte:
„Frau Kruse, wissen sie, warum es jetzt schon schneit und einfach nicht mehr aufhört?“
„Nein! Und das ist mir auch verdammt egal! Was mir aber nicht egal ist, sind Kinderplagen wie du, die hier so einen Lärm machen!“ schrie sie und knallte die Wohnungstür zu.
Josefine war nicht einmal mehr sauer, sie war einfach nur noch erschrocken über die Menschen um sie herum.
Als sie das Haus verlassen hatte und die Straße entlang ging musste sie aufpassen, dass die wenigen Menschen, die noch unterwegs waren, sie nicht einfach umrannten. Alle starrten nur eisig grade aus, keiner achtete auf den anderen.

Zum Spielplatz im Park, dort wollte Josefine hin, in der Hoffnung, dort ihre Freunde zu treffen, Menschen, die nicht nur rummeckerten. Kinder, mit denen man lachen konnte!
Sie sah den Spielplatz schon von weiten und traute ihren Augen kaum. Ungläubig ging sie näher heran – und der einst so schöne Spielplatz war verunstaltet. Die Schaukeln waren umgeworfen, die vereisten Klettergerüste mit Müll behangen. Es waren Kinder da, aber die Kinder stritten und bewarfen sich mit Schnee- und Eisbällen. Ein Kind blutete am Auge, ein anderes wurde festgehalten, man hatte ihm schon die Jacke und die Schuhe ausgezogen.
Josefine lief weiter, so schnell sie konnte rannte sie tiefer in den Park hinein.
Was war nur mit den Erwachsenen und den Kindern los? Sie lief und lief, blieb stehen, als sie nicht mehr konnte und schaute sich um. Sie kannte diesen Teil des Parks gar nicht. Hier waren viel mehr Bäume, alles war dichter und der Weg war schon kein richtiger Weg mehr, sondern ein kleiner Trampelpfad.
Rechts von ihr, zwischen einigen Büschen sah Josefine eine Bank und auf der Bank saß eine alte Frau, eingehüllt in einen dicken Mantel.
Die alte Frau lächelte Josi freundlich an. Sie lächelte! Der erste lächelnde Mensch heute!
Josefine ging langsam auf die Bank zu.
„Setz dich doch!“ forderte die alte Frau sie auf. Ihre Stimme klang warm und herzlich.
Josefine setzte sich und seufzte laut. Die Frau blickte sie fragend an.
Und bevor Josefine weinen musste, erzählte sie der alten Frau doch lieber was los war. Sie erzählte von ihren Eltern, von Sebastian, von Frau Kruse, von den Menschen auf der Straße und den Kindern auf dem Spielplatz.
Die Frau schaute sie wissend an. Und nachdenklich. So als wenn sie was sagen wollte, aber nicht genau wusste, ob sie Josefine ihr Wissen zumuten konnte.
„Und wieso schneit es eigentlich im August?“ hakte Josefine nach.
Immer noch nachdenklich schaute die alte Frau auf die mit Schnee bedeckte Erde und fing an zu reden.

„Weißt du mein Kind, es gibt fünf verschiedene Arten von Menschen.
Da sind erst mal die Frühlingsmenschen. Sie sind warm und hell. Sie kommen in dein Leben wie eine Blüte im Wind und verschwinden dann, wenn du damit nicht rechnest. Du kannst sie nicht festhalten, nicht fassen. Sie gehen- aber ihre Wärme und ihr Licht bleibt. Du wirst dich immer an ihr Lachen erinnern und sie nie vergessen.

Dann gibt es die Sommermenschen. Sie tragen die Sonne im Herzen und stehen im Leben. Manche strahlen so sehr, dass sie dich blenden. Viele teilen ihr Strahlen mit dir. Andre sind hell genug, um mit dir auch in der Dunkelheit durch das Leben zu gehen.
Dann gibt es diejenigen, die in dein Leben platzen wie ein Sommergewitter, dann ruhiger werden und an deiner Seite bleiben.

Und die Herbstmenschen, sie sind so verschieden wie die Farben der Blätter im Oktober. Sie sehen viel mehr als andere Menschen, wenn die Blätter von den Bäumen fallen und die Sicht freigeben. Sie fallen und stehen wieder auf, sie wirbeln wild durch die Welt wie der Wind und finden doch ihren Platz. Sie sind so widersprüchlich wie die Herbstsonne und doch eins mit sich selbst. Herbstmenschen erkennen die Tiefen und das Wahre dieser Welt. Sie wirklich kennen zu lernen ist schwer, denn sie sind so frei wie der Herbstwind.

Die Wintermenschen wirken auf den ersten Blick kühl und distanziert. Doch schreckst du nicht gleich zurück wirst du ihre wahre Art kennen lernen. Du wirst auch ihre Wärme hinter der kühlen Fassade spüren.
Oft fallen sie so leicht wie Schneeflocken auf die Erde, sie kommen so leise in den Leben, dass du sie oft erst gar nicht bemerkst. Bis sie im Winterwind fliegen und frischen Wind, etwas Neues in dein Leben bringen.

Gibt es mehr Frühlingsmenschen auf der Welt ist der Frühling glänzend und frisch.
Es blühen Blumen, die wir schon längst vergessen hatten. Die Menschen sind glücklicher, freier als sonst.
Sind die Sommermenschen in der Überzahl dann ist der Sommer hell und warm. Eine Wärme, die nicht erdrückt, sondern einem Lust zu leben gibt.
Mehr Herbstmenschen machen einen bunten Herbst und erfrischen die Welt, sie sorgen für frische Energie, neue Ideen und geben den Menschen die Gelegenheit, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Sie geben den Blick auf den tieferen Sinn frei.
Wenn es mehr Wintermenschen gibt, ist der Winter frisch und kühl, aber nicht eisig. Die Welt wirkt dann still und beruhigend, aber nicht eingefroren.
Die Menschen werden ruhiger und ruhen in sich, vergessen dabei aber nicht die Menschen um sich herum.“

Nun schwieg die Frau. Josefine hatte aufmerksam zugehört. Inzwischen war es späte Nacht, doch der Mond schien auf den Schnee und gab den beiden genug Licht.
„Frühlingsmenschen, Sommermenschen, Herbstmenschen und Wintermenschen, vier Arten von Menschen“.
Josefine war nachdenklich geworden. Sie erinnerte sich an den schönen Frühling in diesem Jahr. An die wunderschönen Herbsttage im Jahr davor. Auch angenehme Sommer und Wintertage waren ihr noch gut in Erinnerung. Doch all diese Tage hatten nichts mit dem Jetzigen gemeinsam.
Sie traute sich kaum zu fragen, doch sie musste die Antwort einfach wissen.
„Und… die fünfte Art der Menschen.. ?“
Die alte Frau lachte hart.
„Die fünfte Art. Das sind die Eismenschen. Sie wirken kalt, eisig und sie sind es auch. Sie bewegen sich, doch sie sind innerlich erstarrt. Ihre Herzen sind Eisklumpen. Sie kennen und sehen nur sich selbst. Sie wollen auch niemanden anderen kennen und sehen. Sie sind so kalt und hart wie Eis. Ihre Blicke sind eisig und bohren sich wie angespitzte Eiszapfen in dein Herz, wenn du ihnen zu tief in ihre erfrorene Augen schaust.
Gibt es mehr Eismenschen als Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintermenschen zusammen, dann… “
Die alte Frau sprach nicht weiter, sie schaute sich einfach nur um. Josefine wusste auch so, was die alte Frau sagen wollte. Ein Blick auf die eingefrorene Welt um sie herum genügte.

Bis zum Morgengrauen blieben die alte Frau und das Kind zusammen auf der Bank sitzen und schwiegen ohne sich wirklich anzuschweigen.
Sie froren nicht. Das taten nur die Eismenschen.
Josefine wusste, dass sich ihre Eltern nicht um sie sorgen würden.
Jedenfalls nicht in dieser Zeit.
Nicht in der Eiszeit.